Mit Kündigungen scheint es gerade besonders schnell zu gehen. Menschen verlieren wegen Pfandbons und Frikadellen ihre Arbeit. Und das Entsetzen in Deutschland ist groß. Aber hat die Zahl der Kündigungen wegen Kleinigkeiten wirklich zugenommen?
Es ist kurz vor Weihnachten, als der Mann die Bordmenüs in sein Auto stellt. Er arbeitet für eine Firma, die Mahlzeiten für das Kabinenpersonal von Fluggesellschaften liefert. Und nun will er etwas für die Allgemeinheit tun. Er bringt das Essen in eine Armenküche. Das Haltbarkeitsdatum der Mahlzeiten ist abgelaufen. Aber wie heißt es im Volksmund? «Tu' nichts Gutes und dir widerfährt nichts Schlechtes.» Der Mann wird entlassen. Obwohl die Lebensmittel vernichtet worden wären, hätte er sie nicht den sozial Schwachen gebracht.
Das Ganze liest sich wie eine Fiktion. Und ist doch Realität. Es liest sich wie einer Fall aus den vergangenen Monaten. Also in jener Zeit, als einer Kassiererin wegen zwei Pfandbonds in Höhe von 1,30 Euro gekündigt wurde. Und eine Sekretärin gehen musste, weil sie von einem Büfett für Geschäftspartner eine Frikadelle mit Brötchen gegessen hatte. Doch die etwas andere Weihnachtsgeschichte stammt aus der Mitte der 1990er Jahre.
Anders als viele glauben, sind Kündigungen wegen Kleinigkeiten - oft wegen scheinbarer Nichtigkeiten - in Deutschland schon seit Jahrzehnten alles andere als unüblich. Ein Massenphänomen sind und waren sie nicht. «Diese Dinge sind seit Jahren nicht unbekannt», heißt es denn auch beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) auf die Frage, ob sogenannte Bagatellkündigungen in den vergangenen Jahren und Monaten real zugenommen haben - oder ob es sich mehr um ein Medienphänomen handelt. «Die Medien gucken jetzt gerade nur genauer hin», sagt die Sprecherin Marion Knappe. An der Rechtslage habe sich ja seit Jahren nichts geändert.
Ist das die Einzelmeinung einer Gewerkschaftsvertreterin, die damit zwischen den Zeilen sagen will, dass die Arbeitnehmer seit Jahren von den Arbeitgebern benachteiligt werden? Und die Geschichte mit den Bordmenüs ein gezielt recherchiertes Beispiel, um diesen Eindruck zu stützen? Nein. Und nein.
Gekündigt wegen einer ausrangierten OP-Lampe
Erstens legt Knappe großen Wert darauf zu betonen, dass immer der Einzelfall betrachtet werden müsse und die Gewerkschaft es ablehne, im Arbeitsrecht eine finanzielle Grenze zu definieren, unterhalb derer ein Diebstahl oder eine Unterschlagung nicht zu einer (fristlosen) Kündigung führen dürfe. «Das wollen wir ausdrücklich nicht. Wir wollen niemandem zum Stehlen animieren», sagt sie.
Der andere Grund: Nicht nur Gewerkschaftler berichten, Kündigungen wegen Kleinigkeiten seien in Deutschland schon seit Jahren üblich. So kann sich der Arbeitsrichter Christoph Schmitz-Scholemann ohne langes Nachdenken an mehrere obskure Kündigungsfälle aus den vergangenen fünf, sechs Jahren erinnern, die vor seinem Gericht verhandelt wurden. Unter anderem sei Menschen wegen einer ausrangierten OP-Lampe, wegen Lippenstift und kleinen Schnapsflaschen gekündigt worden. «Ich bin seit 29 Jahren Arbeitsrichter», sagt er. «Und das Phänomen kenne ich seit meinem ersten Tag.»
Schmitz-Scholemann ist heute Richter am Bundesarbeitsgericht in Erfurt. Die OP-Lampe hat es bis vor die oberste deutsche Arbeitsgerichtsinstanz geschafft. Die Pfandbons übrigens auch. Eine Entscheidung in dieser Sache steht noch aus.
Ganz soweit nach oben klagte sich der Mann, der die Assietten in die Armenküche brachte, nicht. Christoph Schmitz-Scholemann war am 5. April 1995 der Vorsitzende Richter des Arbeitsgerichts Düsseldorf, das die Kündigung des Mannes in erster Instanz für nichtig erklärte. Der Arbeitgeber legte Rechtsmittel gegen das Urteil ein. In zweiter Instanz einigten sich die Streitparteien auf einen Vergleich.
Dass sich Medien und Öffentlichkeit nun seit einigen Monaten immer wieder hingebungsvoll mit Bagatellkündigungen beschäftigen, liegt also nicht so sehr an exorbitant steigenden Fallzahlen als vielmehr an der Wirtschaftskrise - und daran, wie sie deutsche Mentalitäten (vorübergehend) verändert hat. Sicher, der eine oder andere Arbeitgeber nutzt in den wirtschaftlich schwierigen Zeiten Kleinigkeiten, um Mitarbeiter los zu werden. Dass in den letzten Monaten im Einzelfall schneller gekündigt wurde als zuvor, lässt sich nicht ausschließen. Vor allem aber haben Wirtschaftskrise und Datenschutzskandale zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Belange von Arbeitnehmern geführt.
«Die Managergehälter und Bankerboni auf der einen Seite und die Kündigungen wegen scheinbarer Kleinigkeiten auf der anderen... Da beißt sich einfach die Optik», formuliert der Arbeitsrichter Schmitz-Scholemann. Und die Gewerkschaftlerin sagt: «All die Datenskandale haben zu einer größeren Sensibilität dafür geführt, wie mit Beschäftigten umgegangen wird.»
Bleibt die Frage, ob es gerecht ist, jemanden wegen 1,30 Euro, Frikadellen oder Wohltätigkeit zu entlassen? Die Frage lässt sich pauschal nicht beantworten. Es geht um den Einzelfall, um Vertrauen zwischen Mitarbeitern und Chefs, um die Abwägung von sich widersprechenden Interessen und um Verhältnismäßigkeit. Es geht um individuelle Geschichten - so wie schon seit Jahrzehnten.
(News.de)
Es ist kurz vor Weihnachten, als der Mann die Bordmenüs in sein Auto stellt. Er arbeitet für eine Firma, die Mahlzeiten für das Kabinenpersonal von Fluggesellschaften liefert. Und nun will er etwas für die Allgemeinheit tun. Er bringt das Essen in eine Armenküche. Das Haltbarkeitsdatum der Mahlzeiten ist abgelaufen. Aber wie heißt es im Volksmund? «Tu' nichts Gutes und dir widerfährt nichts Schlechtes.» Der Mann wird entlassen. Obwohl die Lebensmittel vernichtet worden wären, hätte er sie nicht den sozial Schwachen gebracht.
Das Ganze liest sich wie eine Fiktion. Und ist doch Realität. Es liest sich wie einer Fall aus den vergangenen Monaten. Also in jener Zeit, als einer Kassiererin wegen zwei Pfandbonds in Höhe von 1,30 Euro gekündigt wurde. Und eine Sekretärin gehen musste, weil sie von einem Büfett für Geschäftspartner eine Frikadelle mit Brötchen gegessen hatte. Doch die etwas andere Weihnachtsgeschichte stammt aus der Mitte der 1990er Jahre.
Anders als viele glauben, sind Kündigungen wegen Kleinigkeiten - oft wegen scheinbarer Nichtigkeiten - in Deutschland schon seit Jahrzehnten alles andere als unüblich. Ein Massenphänomen sind und waren sie nicht. «Diese Dinge sind seit Jahren nicht unbekannt», heißt es denn auch beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) auf die Frage, ob sogenannte Bagatellkündigungen in den vergangenen Jahren und Monaten real zugenommen haben - oder ob es sich mehr um ein Medienphänomen handelt. «Die Medien gucken jetzt gerade nur genauer hin», sagt die Sprecherin Marion Knappe. An der Rechtslage habe sich ja seit Jahren nichts geändert.
Ist das die Einzelmeinung einer Gewerkschaftsvertreterin, die damit zwischen den Zeilen sagen will, dass die Arbeitnehmer seit Jahren von den Arbeitgebern benachteiligt werden? Und die Geschichte mit den Bordmenüs ein gezielt recherchiertes Beispiel, um diesen Eindruck zu stützen? Nein. Und nein.
Gekündigt wegen einer ausrangierten OP-Lampe
Erstens legt Knappe großen Wert darauf zu betonen, dass immer der Einzelfall betrachtet werden müsse und die Gewerkschaft es ablehne, im Arbeitsrecht eine finanzielle Grenze zu definieren, unterhalb derer ein Diebstahl oder eine Unterschlagung nicht zu einer (fristlosen) Kündigung führen dürfe. «Das wollen wir ausdrücklich nicht. Wir wollen niemandem zum Stehlen animieren», sagt sie.
Der andere Grund: Nicht nur Gewerkschaftler berichten, Kündigungen wegen Kleinigkeiten seien in Deutschland schon seit Jahren üblich. So kann sich der Arbeitsrichter Christoph Schmitz-Scholemann ohne langes Nachdenken an mehrere obskure Kündigungsfälle aus den vergangenen fünf, sechs Jahren erinnern, die vor seinem Gericht verhandelt wurden. Unter anderem sei Menschen wegen einer ausrangierten OP-Lampe, wegen Lippenstift und kleinen Schnapsflaschen gekündigt worden. «Ich bin seit 29 Jahren Arbeitsrichter», sagt er. «Und das Phänomen kenne ich seit meinem ersten Tag.»
Schmitz-Scholemann ist heute Richter am Bundesarbeitsgericht in Erfurt. Die OP-Lampe hat es bis vor die oberste deutsche Arbeitsgerichtsinstanz geschafft. Die Pfandbons übrigens auch. Eine Entscheidung in dieser Sache steht noch aus.
Ganz soweit nach oben klagte sich der Mann, der die Assietten in die Armenküche brachte, nicht. Christoph Schmitz-Scholemann war am 5. April 1995 der Vorsitzende Richter des Arbeitsgerichts Düsseldorf, das die Kündigung des Mannes in erster Instanz für nichtig erklärte. Der Arbeitgeber legte Rechtsmittel gegen das Urteil ein. In zweiter Instanz einigten sich die Streitparteien auf einen Vergleich.
Dass sich Medien und Öffentlichkeit nun seit einigen Monaten immer wieder hingebungsvoll mit Bagatellkündigungen beschäftigen, liegt also nicht so sehr an exorbitant steigenden Fallzahlen als vielmehr an der Wirtschaftskrise - und daran, wie sie deutsche Mentalitäten (vorübergehend) verändert hat. Sicher, der eine oder andere Arbeitgeber nutzt in den wirtschaftlich schwierigen Zeiten Kleinigkeiten, um Mitarbeiter los zu werden. Dass in den letzten Monaten im Einzelfall schneller gekündigt wurde als zuvor, lässt sich nicht ausschließen. Vor allem aber haben Wirtschaftskrise und Datenschutzskandale zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Belange von Arbeitnehmern geführt.
«Die Managergehälter und Bankerboni auf der einen Seite und die Kündigungen wegen scheinbarer Kleinigkeiten auf der anderen... Da beißt sich einfach die Optik», formuliert der Arbeitsrichter Schmitz-Scholemann. Und die Gewerkschaftlerin sagt: «All die Datenskandale haben zu einer größeren Sensibilität dafür geführt, wie mit Beschäftigten umgegangen wird.»
Bleibt die Frage, ob es gerecht ist, jemanden wegen 1,30 Euro, Frikadellen oder Wohltätigkeit zu entlassen? Die Frage lässt sich pauschal nicht beantworten. Es geht um den Einzelfall, um Vertrauen zwischen Mitarbeitern und Chefs, um die Abwägung von sich widersprechenden Interessen und um Verhältnismäßigkeit. Es geht um individuelle Geschichten - so wie schon seit Jahrzehnten.
(News.de)